Königreich aus Watte
Vom Meer umgeben rief sie mich, die Zukunft des Gamings, als wäre sie eine Sirene und ich Odysseus. Nicht nur würde ich an diesem Apriltag zum ersten Mal die virtuelle Realität besuchen und somit mitreden können, nein, ich würde dies sogar an einem der futuristischsten Orte der Welt tun. Oh, du schöne neue Welt!
Über die Vergangenheit in die Zukunft
Die Magnetbahn der Yurikamome-Linie verbindet die Station Shimbashi mit der künstlichen Insel Odaiba; ein vor Tokyo gelegener, riesiger Komplex mit Museen, Spielhallen, Vergnügungszentren und Restaurants. Während der Fahrt standen meine gierigen Augen nie still. So irreal wie ich mir den Cyberspace vorstellte, so unglaubwürdig war das Leben in diesem Augenblick selbst.
Die Stadt hatte im grauen Nebel ihre Farbe verloren, liess sie aber dennoch nicht ernüchtern. Schon vor dem Eintreten in die neue Wirklichkeit, verfranste meine Realität durch den Anblick einer kleinen Freiheitsstatue und eines Riesenroboters. Unser Ziel war nah.
Die Suche nach einer wahren Neuerung im Spielesektor war in den letzten Jahren intensiv, aber erfolglos. Die Wii-Konsole konnte trotz den beeindruckenden Verkäufen nicht längerfristig überzeugen. 3D hat sich in der Gamewelt gar nicht erst etabliert. Wie Tantalus schienen wir verdammt, ewig nach etwas zu dürsten, was wir in greifbarer Nähe wähnen, aber doch unerreichbar ist. Stagnation bedeutet Verdammnis. War es Dekadenz oder Hybris, die uns suchen liess? Gar der menschliche Geist selbst? Wie dem auch sei, die Warterei ging weiter.
„Es hat sicher Kaffee, wo wir hingehen. Vorher müssen wir ein Ticket für Playstation VR reservieren!“. Auf die Frage nach Frühstück, war dies, in verschiedener Abwandlung, die Antwort an meine Freundin. Als wir endlich die zukunftsträchtige Halle des Wissenschaftsmuseums betraten, stellten wir uns an, um einen Termin für einen VR-Trip zu reservieren. Der Platzanweiser wiederholte immer wieder Instruktionen auf japanisch. Keine Ahnung was er wollte. Ich wusste nur, was ich wollte. Als es dann klappte, schaute ich das Ticket an; es wirkte so unscheinbar.
Dies war die Eintrittskarte zur Game-On-Messe, eine Sonderausstellung, bei der es um die Geschichte der Videospiele ging. Hunderte von Automaten standen an allen Ecken, bereit ausprobiert zu werden. Chronologisch lief man im Gang an PONG-Automaten vorbei, schaute den Kindern beim Guitar Hero spielen zu oder auf einem virtuellen Motorrad jauchzen. Erlebt hatte ich die meisten dieser Spiele in den ursprünglichen Erscheinungsjahren. Eine neue Generation ergötzt sich nun an Spielen, die älter sind, als sie selbst. Die Spielelemente blieben in den ganzen Jahren jedoch immer die gleichen. Miss Sophie, selbe Prozedur wie in jedem Jahr. Was aber erwartet uns in der Zukunft? Am Ende des Gangs stand die Antwort. Oder zumindest eine Antwort.
Ich glaube, ich habe es nie erlebt, vor dem Ausprobieren eines neuen Zubehörs nervös zu sein-bis heute. Nach einer gut gemeinten, aber schwer verständlichen Erklärung, sass ich auf einen Stuhl. Das Headset wurde mir angelegt und ich brachte selber das Visier nahe an mein Gesicht. Es konnte losgehen. Nachdem ich zuerst in grossen Lettern das Wort „Ready“ gelesen hatte, wurde ich unweigerlich an das Science-Fiction Buch Ready Player One erinnert. In diesem Werk geht es um ein MMO, bei dem alle Spieler mittels VR in einer alternativen Realität leben, bereit, der tristen Wirklichkeit zu entfliehen. Bis vor kurzem hätte ich es Science Fiction genannt. Nun war es das nicht mehr.
In Guy Ritchies Albtraum gefangen
Bevor ich wusste, wie mir geschah, befand ich mich in einem fahrenden Auto. Ein bulliger Typ, der locker in einem Jason Statham Doppelgänger Wettbewerb mitmachen könnte, sass neben mir. Die beiden Move-Controller, welche mir vorher übergeben wurden, waren nun meine Hände. Ungläubig hob ich eine Dose auf und schmiss sie dem Fahrer an. Mein Puls fing an zu rasen, als sich ein fremder Wagen näherte und ein Kugelhagel über unsere Windschutzscheibe ausbrach. Von aussen musste ich wie ein Narr erscheinen. Umherfuchtelnd und Grimassen schneidend für die anderen, in meinem Bewusstsein aber aus dem Autofenster gelehnt oder an meinen Sitz klebend, im ultimativen Gefecht.
Die etwas pixelige Grafik hatte es in dieser ganzen Zeit niemals geschafft, mich aus der Illusion zu ziehen. Den ersten Wow-Moment hatte ich am Anfang, als ich realisierte, dass ich mich nicht wegdrehen konnte. Ich war in diesem Moment wirklich dort und kein Zyniker der Welt hätte mich überzeugen können, dass dies nur ein Spiel war. Von dieser Erfahrung zu erzählen, ist für mich, als beschriebe ich einen Traum. Die Zeit war verzerrt und als ich das Gerät abnahm, war ich orientierungslos und leicht benommen, als würde ich aufwachen.
Als ich mit meiner Freundin wieder zurückfuhr, gab es nur dieses Thema. Sie erzählte von ihrer VR Unterwasser-Demo, als wäre sie wirklich dort gewesen. Eine künstliche Erfahrung, die uns nun verband. Ein Königreich aus Watte. Nur die Zukunft wird zeigen, wie wir das einordnen werden.
„Wir holen uns jetzt endlich einen Kaffee“, sagte ich ihr verwirrt. Der war wenigstens da, in einer Tasse.
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